M. Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg

Cover
Titel
Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–18.


Autor(en)
Rauchensteiner, Manfried
Erschienen
Wien 2013: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
1222 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Ernst Bruckmüller

Es ist keine Übertreibung, wenn Rauchensteiners Buch als opus magnum bezeichnet wird. Dieses Werk wird auch dadurch nicht kleiner, dass ihm ein anderes, seinerseits schon voluminöses Buch, Der Tod des Doppeladlers (1993) zu Grunde liegt. Das neue Buch ist aber weit mehr als eine überarbeitete Neuauflage. Im Abstand von zwanzig Jahren – und bei Rauchensteiner waren das zwanzig Jahre weiterer intensiver Beschäftigung mit dieser Thematik – waren nicht nur Korrekturen anzubringen, Fehler auszumerzen und Neuerscheinungen zu berücksichtigen. Der Autor entwickelte neue Einsichten, vor allem auch im Hinblick auf die Entfesselung des Krieges. Dafür sieht er die Verantwortung beim alten Kaiser Franz Joseph, «[...] weit größer [...] als bisher angenommen.» (1063). In der Tat waren ja nach der Verfassung Österreich-Ungarns Außenpolitik, Heerwesen und Krieg Prärogativen des Kaisers, und der ließ sich da auch nichts dreinreden. Die Hartnäckigkeit des alten Kaisers, in diesen Bereichen habe er allein zu bestimmen, führte aber in Wirklichkeit, angesichts seines Alters und zunehmender gesundheitlicher Probleme zu einem enormen «Vakuum» an der Spitze des Reiches – ein Vakuum, das zunächst vom Armeeoberkommando, später von der Deutschen Heeresleitung gefüllt wurde. Tatsächlich hat Franz Joseph ja nach der schweren Krise infolge der Brusilov-Offensive im Sommer 1916 dieser Gemeinsamen Obersten Kriegsleitung unter dem Befehl des deutschen Kaisers zugestimmt – und damit einem wichtigen Teil seiner im Innern so beharrlich verteidigten Vorrechte aufgegeben.

Aber die thematische Neuausrichtung des Bandes geht weit über diese Frage hinaus. Vielfach ergänzt bzw. neu formuliert wurden die Kapitel über die innenpolitische Entwicklung der Monarchie. Weithin neu sind die Abschnitte über die Kriegsfinanzierung und vor allem über die nur selten thematisierten Bevölkerungsverschiebungen durch Flucht, systematische Absiedlung aus den Frontgebieten, Deportation und durch die Massen von Kriegsgefangenen. Diese sozusagen «strukturellen» Kapitel sind aber mehr oder weniger in die Chronologie des Krieges eingebettet – so wie ja auch im «wirklichen» Leben neue Probleme zwar für die Akteure häufig überraschend, beim Blick hinter die Kulissen aber keineswegs zufällig auftreten. Die Überschriften sind zuweilen Zitate (Kap. 5 «Gott sei Dank, das ist der große Krieg»), meistens aber kurze und knappe Inhaltsandeutungen (Kap. 22. «Die Folgen der russischen Februarrevolution»). Es hilft der Lesbarkeit des Buches, dass es in 32 Kapitel unterteilt wurde, die einzelnen Abschnitte sind daher von erträglicher Länge. Der Wechsel des Blicks zwischen verschiedenen militärischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, diplomatischen und innenpolitischen Problemen dient jener ebenso wie er die verschiedenen und kompliziert miteinander korrespondierenden Ereignis-Ebenen zu verdeutlichen vermag.

Nach einer insgesamt wochenlangen Lektüre erscheint dem literarisch gebildeten Leser bzw. der entsprechenden Leserin die existierende dramatische Umsetzung der «Letzten Tage der Menschheit» von Karl Kraus noch weniger als literarische Fiktion denn als eine realistische Darstellung. Jene Mischung von Realitätsferne der Entscheidungsträger, Unvermögen der militärischen Führungsebenen, Planungsmängeln der militärischen und zivilen Instanzen, politischer Entscheidungsschwäche auch und vor allem an der Spitze des Reiches (und insbesondere auch seines österreichischen Teilstaates), korrespondierend mit einer ungeheuerlichen Zumutung an Zivilbevölkerung und Soldaten, was das Ertragen von Hunger, Leid, Tod, Verletzungen, Krankheiten, Entbehrungen aller Art, Kriegsgefangenschaft, Deportationen, Umsiedlungen, Korruption, einer brutalen Kriegsjustiz, überhaupt einer Herrschaft des Militärischen über das Zivile angeht, die man von Karl Kraus kennt, wird vielfach auch von Rauchensteiner nach den Quellen und einer überaus reichen Sekundärliteratur beschrieben, analysiert und (selbstverständlich verbal zu-rückhaltend) kommentiert.

Freilich wird Vieles von dem, was hier für Österreich-Ungarn festgehalten wird, auch für die anderen kriegführenden Staaten gelten. Die Monarchie des Hauses Österreich eröffnete den Krieg aber mit einigen besonderen Handicaps. So war Österreich-Ungarn die militärisch schwächste (oder, zieht man Italien in die Berechnung mit ein: zweitschwächste) der großen europäischen Mächte, mit der geringsten Stärke der Armee im Frieden, der gering-sten Ausschöpfung des angesichts der allgemeinen Wehrpflicht gegebenen Mannschaftspotentials, dem kleinsten Wehrbudget, der wohl am wenigsten modernen Bewaffnung und, was sich allerdings erst im Krieg herausstellte, mit einer offenbar besonders wenig befähigten Generalität. Die Probleme mit der teils veralteten Be-waffnung gingen auf die besondere Finanzverfassung der Monarchie zurück, denn den Heeresbudgets mussten die Abgesandten der beiden Parlamente zustimmen, und der ungarische Teil forderte immer wieder eine Erhöhung der Rüstungsaufgaben zugunsten der ungarischen Wirtschaft, die freilich bei Weitem nicht so leistungsfähig war wie die österreichische. Das war einer der Gründe für die ständige Unterdotierung des Heeres. Eine weitere Ursache lag auch in der forcierten Aufrüs-tung der im Krieg dann ziemlich bedeutungslosen Marine, die enorm viel Geld verschlang (ein besonderes Anliegen des Thronfolgers Franz Ferdinand!). Die viel zu geringen aktiven Mannschaftsstände vor 1914 hatten dann auch relativ zu wenige ausgebildete Reservisten zur Folge, so dass nach den enorm verlustreichen Kämpfen im Herbst und Winter 1914/15 sehr bald nur mehr wenig ausgebildete Ersatzmannschaften nachrückten – mit den entsprechenden Folgen im Falle russischer Offensiven. Ebenso wie ein großer Teil der aktiven Mannschaften von 1914 fiel im ersten Kriegshalbjahr auch ein erheblicher Teil der jüngeren Subalternoffiziere aus – vor allem die schneidigen jungen Leutnants, die mit gezogenem Säbel «ihrer» Schwarmlinie vorausgingen, fielen dem feindlichen Feuer rasch zum Opfer, ebenso wie die noble Kavallerie, die zu Kriegsbeginn noch zur Aufklärung gebraucht und dabei rasch dezimiert wurde. Der Krieg wurde auf der unteren Ebene, wie dies der ungarischamerikanische Historiker István Deák festgestellt hat, zu einem Krieg der Reserveoffiziere. Aber auch davon gab es zu wenige, weil das Prestige des Reserveoffiziers offensichtlich in der Monarchie weniger galt als im Deutschen Reich und weil diese Charge für nichtdeutsche Absolventen höherer Schulen noch um Einiges weniger anziehend war.

Damit sind wir schon beim eigentlichen Existenzproblem des Habsburgerreiches der «nationalen Frage». Das Problem des Vielvölkerstaates, dass auf dessen Gebiet mehrere «Volksstämme» zur Gänze (Mag-yaren, Tschechen, Slowaken, Kroaten, Slowenen) andere nur mit verschieden großen Anteilen (Polen, Ruthenen, Rumänen, Deutsche, Italiener) zusammenlebten, lässt sich auf die Frage fokussieren, ob es gelang, die Hälfte der Gesamtpopulation, nämlich die Slawen (Tschechen, Slowaken, Polen, Ruthenen, Serben, Kroaten und Slowenen) bei der Stange zu halten. Die Frage, wie diesen Völkern im Rahmen der Monarchie volle politische Gleichberechti-gung ermöglicht werden könne, ohne die Ansprüche der Deutschen, Magyaren, Italiener und Rumänen zu tangieren, war schon vorher die zentrale Frage gewesen. Jetzt wurde sie zur Überlebensfrage. Tatsächlich erwies sie sich als unlösbar. Zwar waren die aufgebotenen Reservisten brav eingerückt, und antiserbische Kundgebungen gab es nicht nur in Wien und Buda-pest, sondern auch im kroatischen Zagreb und im slowenischen Ljubljana, etwas verhaltener im (damals schon fast ganz) tschechischen Prag. Aber die slawischen Eliten dachten vielfach schon in anderen Kategorien – sie träumten von eigenen souveränen Staaten, einem neuen Polen, einer neuen Tschechoslowakei, einem neuen Staat der vereinigten Südslawen. Viele Mitglieder der slawischen Intelligenz waren «neoslawisch» orientiert und fühlten Sympathien mit Russland. Sehr rasch etablierte sich ein tschechisches Exil im Westen unter der Führung von Tomas G. Masaryk und Edvard Beneš, deren Ziel ein eigener souveräner Staat war. Auch kroatische Politiker (Ante Trumbić) gingen ins Ausland, um mit der seit 1915 im Exil auf der griechischen Insel Korfu weilenden serbischen Regierung Kontakt aufzunehmen. Der in der Maideklaration von 1917 im wieder einberufenen Wiener Parlament (das seit 1914 geschlossen war) zunächst von Politikern geforderte eigene Staat der (österreichischen und ungarischen) Südslawen wurde bald zum populären Anliegen der Bevölkerung, vor allem bei den Slowenen. Aber dieser Staat konnte nicht ohne Verwicklungen mit den Ungarn und Deutschen entstehen, denn Serben und Kroaten lebten größtenteils in der ungarischen Reichshälfte, und in der österreichischen mussten die Forderungen von Kroaten und Slowenen mit den küsten-ländischen Italienern ebenso in Konflikt geraten wie mit den Deutschen in Kärnten und in der Steiermark, die keineswegs gesonnen waren, Teile ihrer Kronländer den Slowenen zu überlassen – außerdem sollte den «Deut¬schen» der «Weg zur Adria» frei gehalten werden. Was die Deutschen den Slowenen verweigerten, nämlich die Anerkennung slowenischer Landesteile in Kärnten und Steiermark, forderten sie hingegen von den Tschechen – nämlich die administrative Teilung Böhmens in einen tschechischen und einen deutschen Teil. Dass die Bewältigung dieser politisch unvereinbaren Forderungen von keiner der österreichischen und ungarischen Regierungen geschafft wurde, wird man kaum kritisieren können. Diese Fragen waren schlicht und einfach un¬lös-bar, und als man 1918 tat¬sächlich die ad-ministrative Trennung Böhmens dekretierte, änderte das nichts mehr, da sich am 28. Oktober 1918 der neue tschechische Staat verselbständigte. Alle diese nationalen Probleme wurden aber dadurch verschärft, als sich alle übrigen kriegführenden Staaten des nationalen Pathos zur Motivierung ihrer Populationen bedienten – ein solches nationales Pathos stand aber, wenn überhaupt, nur bei den Magyaren zur Verfügung. Auch bei den Deutschösterreichern konnte es in gewissem Maße – als Staatspatriotismus – mobilisiert werden, konnte aber im Krisenfall (nach der Sixtus-Affaire!) auch zum staatsnegierenden, irredentistischen Anschluss-Nationalismus mutieren. Wie auch immer – bei den Angehörigen der nichtdeutschen und nichtmagyarischen Nationen wuchs das Gefühl, diese Monarchie sei nicht (mehr) ihre notwendige und verteidigungswerte Heimat.

Neben dem nationalen Problem erwies sich das Versorgungsproblem als immer drängender – und immer weniger lösbar. Nun war Österreich-Ungarn ja überwiegend ein Agrarstaat. Aber gerade die Agrarstaaten gerieten als erste in schwerste Versorgungskrisen – Russland, dann die Habsburgermonarchie. Ein Industriestaat wie das Deutsche Reich konnte seine Versorgung, trotz der Blockade durch die Entente, wesentlich länger, wenngleich ebenfalls nur mit extremen Einschränkungen, aufrecht erhalten. Für den Krieg war in keiner Weise vorgesorgt worden – weder finanziell noch wirtschaftlich. Das wichtige Getreideland Galizien wurde schon im August zum Kriegsschauplatz und fiel für die Versorgung der Industriegebiete und Großstädte aus. Die Heeresverwaltung kaufte alle erreichbaren Vorräte auf, ohne Rücksicht auf Preise und mittelfristige Planungen – man rechnete ja mit einem kurzen Krieg. 1915 trat bereits Knappheit auf, ab 1916 regierte der Hunger, erste Demonstrationen zeigten die Probleme schon in aller Schärfe. 1917 (da gab es auch noch eine große Dürre im späten Frühjahr) und 1918 wurde es natürlich nicht besser – obgleich man in die Friedensschlüsse im Osten (Ukraine Februar, Russland März 1918) große Hoffnungen gesetzt hatte. Dennoch funktionierte die Erzeugung von Kriegsgeräten bis in das Jahr 1918 hinein. Nach einer ersten Krise liefen diese Produktionen 1915 voll an. Aber auch hier regierte bald der Mangel – gewisse seltene Metalle wurden rar, man sammelte Altmetalle, Ringe, Glocken und schmolz alles ein, für den Bedarf der Geschützgießereien und Munitionsfabriken. Finanziert wurde der Krieg durch Anleihen, lange Zeit nicht durch Steuererhöhungen. Erst spät entschloss man sich, auf diesem Weg den beginnenden inflationären Überhang an umlaufenden Geldmitteln abzuschöpfen. Die Kriegsanleihen (in Österreich acht, in Ungarn 17) wurden national, sozial und regional sehr unterschiedlich gezeichnet: Am meisten noch vom patriotischen deutschsprachigen bzw. magyarischen Mittelstand, viel weniger vom tschechischen. Spitzenzeichner waren vielfach jene großen Unternehmungen, die auch vom Krieg profitierten – aber nicht immer, rund die Hälfte der großen Militär-Belieferer hatten keine Kriegsanleihe gezeichnet. Eigentümlicherweise hielt sich die Hocharistokratie mit Kriegsanleihen-Engagements sehr zu¬.
Der rote Faden des Buches liegt in den militärischen Ereignissen. Der strategische «Gott» des österreichischen Offizierskorps war Franz Conrad von Hötzendorf, Chef des Generalstabs von 1906 bis 1911 und wieder seit 1912, faktisch Oberkomman-dierender (neben dem unbedeutenden Erz-herzog Friedrich, der nominell das Kommando führte). Conrad war ein hervorragender strategischer Kopf, dem freilich die faktische Kenntnis des Kriegsschauplatzes in der Regel mangelte. So erteilte er für die große Offensive gegen Italien den Angriffsbefehl für die aus Südtirol angreifenden Regimenter für den 2. Februar – da lag dort überall meterhoch der Schnee! Faktisch begann der Angriff dann im Mai, aber da waren die Italiener längst vorgewarnt, und die Offensive blieb bald stecken. Und vom Schnee und Schlamm in Galizien und in den Karpaten nahm er ebenso wenig Kenntnis wie von den unwegsamen Schluchten des Balkan.

Der militärische «Pallawatsch» (um ein leider aus der Mode gekommenes altes österreichisches Wort für ungelöste, aber selbst verschuldete Problemknäuel zu verwenden) begann schon mit der Mobilisierung, als man gegen Serbien relativ starke Kräfte schickte, gegen Russland hingegen, wie sich bald zeigte, zu schwache. Dazu kam eine unklare Führungsstruktur – die Balkanfront stand unter dem Kommando des unglücklichen Landeschefs von Bosnien, Potiorek, der sich am Tod des Thronfolgers nicht ganz zu unrecht mit verantwortlich fühlte, weitgehend selbständig, was der Kommandant zu mehreren gescheiterten Angriffen auf Serbien benützte, zum Teil mit Kräften, die man gegen die Russen dringend gebraucht hätte. Auf dem russischen Kriegsschauplatz spielte sich schon im ersten Kriegsjahr ein Muster ein, das dann bis 1917 beherrschend blieb: Griffen die Russen massiv an, dann gelangen ihnen sowohl 1914/15 wie wieder 1916 und sogar noch 1917 gegen die Truppen Österreich-Ungarns große Erfolge, nur geringe aber gegen die Deutschen. Jedes Mal erlitt die k.u.k. Armee enorme Verluste, nicht nur durch Tod, Verwundung und Krankheit, sondern vor allem, weil die Russen zahllose Gefangene machten. Die alte Frage, ob das auf systematisches Versagen oder Desertieren vor allem tschechischer oder anderer slawischer Einheiten zurückzuführen ist, beantwortet der Autor mit zahlreichen Quellenstellen, deren Aussagewert freilich nicht eindeutig ist. Immerhin wird man sagen können, dass manchen Truppenteilen die Gefangenschaft doch erstrebenswerter erschien als der Heldentod.

Militärisch relativ gut ging es den Mittelmächten eigentlich nur im Spätsommer 1915: Serbien war ausgeschaltet, die Russen aus Galizien vertrieben und die Italiener, die im Mai Österreich-Ungarn den Krieg erklärt hatten, hatten sich erfolglos am Karst und am Isonzo fest gebissen. Aber diese Gelegenheit ging vorüber, eine echte Friedenschance hatte sich nicht eröffnet. 1916 wollte Conrad mit einer großen Offensive Italien «bestrafen». Das gelang nicht so recht, und wenig später brach mit der Brusilov-Offensive das Verhängnis neuerdings über Galizien herein. Freilich waren danach auch die Russen schon am Ende – im Februar 1917 brach die Revolution aus. Die Monarchie musste sich hingegen, zur Rettung der Ostfront, völlig unter das deutsche Kommando beugen, die militärische Selbständigkeit ging zu Ende. 1917 verschärfte sich die Not im Hinterland, während die Isonzofront bedenklich ins Wanken geriet.

Wie in einer guten Tragödie erhält nun der «Held» seine letzte Chance: Die 12. und letzte Isonzoschlacht wurde, unter deutscher Führung und maßgeblicher Beteiligung, zum großen militärischen Sieg, die italienischen Armeen zerfielen und die Mittelmächte stießen bis an die Piave vor – der Artilleriebeobachter und spätere Historiker Friedrich Engel-Janosi konnte mit seinem Fernrohr die Türme von Venedig erblicken. Italien wankte, aber es hielt mit alliierter Hilfe durch. Aber es war der klassische Pyrrhus-Sieg: Für den gigantischen Aufmarsch im Oktober 1917 wurde alles verfügbare rollende Material gebraucht – und dafür viel zu wenig Kohle und Kartoffeln nach Wien geliefert. Weit mehr als 100.000 italienische Gefangene mussten nun ebenfalls ernährt werden. Immerhin konnte sich die Armee drei Monate lang aus dem fruchtbaren Friaul und den hier aufgestapelten Vorräten ernähren. Im Jänner brachen umfangreiche Streiks aus, die nur mit Mühe beruhigt werden konnten. In der Bucht von Cattaro revoltierten Matrosen. Zum Hunger kam nun das Beispiel der russischen Revolution dazu! Jetzt ließ auch die Leistungsfähigkeit der Kriegsindustrie rasch nach. Im Sommer 1918 durften die k.u.k. Geschütze nur mehr vier Granaten pro Tag verschiessen – und von denen wusste man nicht genau, wo sie einschlagen würden, so schlecht war ihre Qualität.

Das endgültige Aus für die Donaumonarchie war dennoch nicht nur eine Folge des Hungers und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Dazu kam verschärfend die so genannten «Sixtus-Affaire». Dahinter standen Kontakte des jungen Kaisers Karls mit zwei Brüdern seiner Frau Zita, Offizieren in der belgischen Armee im Jahre 1917. Der Außenminister Graf Czernin war eingeweiht, aber es gab daneben offenbar noch eine handschriftliche Mitteilung des Kaisers für Poincaré, mit dem Hinweis, Karl würde «gerechtfertigte» Ansprüche Frankreichs auf Elsaß-Lothringen unterstützen. Die Franzosen und Engländer waren interessiert, Italien (das nicht wirklich informiert wurde) blockte ab, es wurde nichts draus. Man hielt auch dicht, allseits. Erst durch eine Rede Czernins vor dem Wiener Gemeinderat am 2. April 1918 wurde aus jenen Kontakten die «Affaire». Er sagte dort, Clemenceau habe angefragt, ob er, Czernin, zu Verhandlungen bereit sei. Jener replizierte sofort und korrigierte, Österreich-Ungarn habe angefragt. Nach einer weiteren Replik Czernins veröffentlichte Clemenceau Karls Schriftstück. Karl erklärte alles für Schwindel, war aber blamiert und wurde durch Czernin noch weiter desavouiert, der die Verantwortung für die Briefe ablehnte und mit Selbstmord drohte. Die Folgen des Ganzen: Innenpolitisch standen Karl und seine Frau ab jetzt für die Deutschnationalen unter dem Generalverdacht des nationalen Verrates. In Berlin war man wütend, denn militärisch war Österreich-Ungarn sowieso schon von Deutschland abhängig, und jetzt das! Karl musste nach Canossa: Vor Wilhelm II. abschwören und das deutsche Bündnis noch einmal beschwören. Das wiederum befestigte bei den Westmächten die bisher noch nicht total ausgereifte Absicht, die Zerstörung der Habsburgermonarche jedenfalls umzusetzen. Die tschechische Emigration wurde aufgewertet, immerhin gab es auch schon tschechische Legionäre auf der Seite der Alliierten. Im Juni anerkannten die Franzosen, im September die Amerikaner die Tschecho-Slowakei als kriegführende Macht. Dennoch hielten bis zuletzt tschechische Soldaten an der Italien-Front aus.

Den Untergang beschleunigte ein letzter Offensiv-Versuch gegen Italien im Juni 1918. Er scheiterte unter enormen Verlusten, nicht nur wegen der fehlenden Kampfmittel, sondern auch wegen der fehlenden Koordination der kommandierenden Stellen. Und im August geriet auch die Westfront in Bewegung. Aber das Ende begann am Balkan – dort, wo auch der Krieg begonnen hatte. Im September brach die bulgarische Armee zusammen, Serben, Franzo-sen und Engländer rückten Richtung Belgrad vor, Bulgarien bat um Waffenstill-stand. Am 14. September richtete Kaiser Karl eine Friedens-Note an die Alliierten, ohne besondere Antwort. Die Völker Österreich-Ungarns begannen sich immer mehr, selbst zu organisieren. In diesem Prozess war das berühmte Manifest des Kaisers vom 16. Oktober eigentlich nur mehr jener Ausgangspunkt, der die rechtliche Voraussetzung für einen einigermaßen gewaltlosen Zerfall der Monarchie bot.

Keine Tragödie ohne Satyrspiel: Eigentlich war das Reich schon nicht mehr existent – am 28. Oktober hatten sich die Tschechen, einen Tag darauf die Südslawen in eigenen Staaten konstiutiert, am 30. Oktober die Deutsch-Österreicher – da ging es noch immer um die Frage der Beendigung des Krieges. Am 24. Oktober hatte die italienische Offensive eingesetzt, am selben Tag beorderte die ungarische Regierung «ihre» Truppen zum Schutz der Heimat zurück. Andere Truppenteile meuterten, dennoch hielt die Front noch einigermaßen, aber es war klar, dass der Zusammenbruch bevorstand. Ab 31. Oktober war eine österreichische Offiziersdelegation bei den Italienern, zu Waffenstill-standsverhandlungen, sie erhielt in der Nacht vom 1. auf den 2. November eine Kapitulationsaufforderung. Der Kaiser zögerte und wollte nicht unterschreiben. Zuletzt delegierte er diese Aufgabe an den neuen Armeekommandanten, Feldmarschall Kövess. Der war noch gar nicht in Wien, in seiner Stellvertretung unterschrieb der zurückgetretene Generalstabschef Generaloberst Arz. Unterzeichnet wurde der Waffenstillstand am 3. November um 15 Uhr. Er sollte 24 Stunden später in Kraft treten. Dadurch fielen den Italienern noch 380.000 Soldaten der ehemaligen Habsburgermonarchie in die Hände. Die Verantwortung dafür sieht der Autor in erster Linie beim Armeeoberkommando und beim Kaiser selbst.

Rauchensteiner zeichnet ein großartiges, düsteres, vieldimensionales Bild eines eigentümlichen Staatswesens, das schon im Frieden schwierig zu regieren war, aber seinen Völkern doch viele – wenn schon nicht alle – kulturellen und wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten bereit gestellt hatte. Den von ihm selbst entfesselten Krieg hatte dieses Staatswesen trotz aller Schwierigkeiten erstaunlich lange durchgehalten, freilich unter der Diktatur der militärischen Notwendigkeiten, des Armeeoberkommandos und der Deutschen. Zuletzt war es zerfallen, nicht nur wegen der militärischen Niederlage, wegen des Hungers und der materiellen Not, sondern weil der größte Teil seiner Bürgerinnen und Bürger keinen Sinn mehr in seiner Existenz sah. Nur wenig ist aber in diesem Buch von jener Kraft die Rede, die gemeinhin als eine der Säulen der Habsburgermonarchie durch die Jahrhunderte ihrer Existenz gilt – der römisch-katholischen Kirche. Auch sie konnte diesen Prozess nicht aufhalten. Dass die große monarchietreue Partei der deutschösterreichischen Katholiken, die Christlichsozialen, ausgerechnet von einem katholischen Priester und Theologieprofessor, Ignaz Seipel, zur Akzeptanz der neuen kleinen Republik, die sich zunächst Deutsch-Österreich nannte, motiviert werden konnte, gehört freilich schon zu einem anderen Kapitel der österreichischen Geschichte.

Zitierweise:
Ernst Bruckmüller: Rezension zu: Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–18, Wien/Köln/Weimar, Böhlau Verlag, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 108, 2014, S. 517-523.

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